Mit "Zikaden" erzählt Ina Weisse von zwei Frauen, deren Lebenswege sich zufällig kreuzen und deren Begegnung mehr enthüllt, als sie erwarten. Ein feinfühliges, stilles Drama über Verantwortung, Überforderung und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit.
Ina Weisse gehört zu den Regisseurinnen, die ihre Geschichten lieber zwischen den Zeilen erzählen. Schon in "Das Vorspiel" bewies sie ein feines Gespür für Zwischentöne, für das Ungesagte und die Brüche des Alltags. Mit "Zikaden" knüpft sie an diese Handschrift an und präsentiert einen Film, der sich dem schnellen Zugriff entzieht. Er beobachtet, tastet sich heran, verweilt und entfaltet gerade dadurch eine eigentümliche, fast stille Kraft.
Der Film beginnt ohne große Einführung. Menschen unterschiedlichen Alters erscheinen im Bild: Kinder, ältere Paare, eine Frau, die scheinbar beiläufig vorbeigeht. Es dauert, bis man die Figuren zuordnen und ihre Beziehungen verstehen kann. "Zikaden" startet wie eine Erinnerung, die sich langsam ordnet und ihren Rhythmus erst finden muss. Judith Kaufmanns Kamera beobachtet unaufdringlich, die Musik bleibt dezent, fast zögerlich. Erst nach einigen Minuten setzt der Vorspann ein, als wollte der Film prüfen, ob man bereit ist, sich auf seine stille Welt einzulassen.
Im Zentrum von "Zikaden" steht Isabell, verkörpert von Nina Hoss, die in Berlin als Maklerin arbeitet. Ihr Alltag ist durchgetaktet und kontrolliert, doch in dieser Ordnung zeigt sich ein feiner Riss. Ihre Ehe mit Philipp (Vincent Macaigne) hat einen Punkt erreicht, an dem Worte kaum noch Gewicht haben. Am Flughafen bleibt sie allein zurück, ein stiller, unspektakulärer Moment, der dennoch Bände spricht. Gleichzeitig trägt Isabell die Verantwortung für ihre pflegebedürftigen Eltern, die in einem alten Wochenendhaus in Brandenburg leben. Ihr Vater, einst ein angesehener Architekt, hat nach einem Schlaganfall weitgehend das Sprechen verloren, die Mutter ist überfordert. Zwischen Berlin und Provinz pendelnd, versucht Isabell, alles zusammenzuhalten und verliert sich dabei Stück für Stück selbst.
Parallel dazu tritt Anja in den Blick, gespielt von Saskia Rosendahl. Sie lebt mit ihrer Tochter Greta in dem brandenburgischen Dorf, in dem auch Isabells Eltern wohnen. Anja ist alleinerziehend, manövriert sich mit improvisierten Jobs durch den Alltag. Mal als Kellnerin, mal Aushilfe, mal Küchenhilfe. Ihr Leben wirkt wie ein ständiger Balanceakt zwischen Existenz und Erschöpfung. Als sie ihren Job verliert, droht das fragile Gefüge endgültig zu zerbrechen.
Eines Tages treffen Anja und Isabell zufällig beim Spazieren aufeinander. Es ist kein inszenierter Moment, kein dramatisches Kennenlernen, nur ein stiller Augenblick, der sich langsam auflädt. Zunächst scheinen die beiden Frauen kaum Gemeinsamkeiten zu haben: Isabell, die kontrollierte, weltgewandte Maklerin, Anja, die bodenständige, erschöpfte Mutter. Doch nach und nach werden die feinen Parallelen sichtbar. Beide tragen eine unsichtbare Last und stehen an einem Punkt, an dem die Orientierung im eigenen Leben unsicher geworden ist.
Weisse erzählt diese Annäherung ohne Übertreibung, ohne klare Dramaturgie. Der Film springt zwischen Figuren, Orten und Tagen. Er verfolgt kein Ziel, sondern einen eigenen Rhythmus. Das macht ihn fordernd, aber auch ehrlich. Wie im Leben gibt es kein klares Vorher und Nachher, kein Auflösen der Konflikte. Stattdessen Momente der Nähe, gefolgt von Distanz, Missverständnisse, zarte Gesten.
Nina Hoss verkörpert Isabell mit stiller Wucht. Ihre innere Anspannung ist in jeder Bewegung, in jedem kontrollierten Atemzug spürbar. Sie spielt eine Frau, die funktionieren muss, weil es sonst niemand tut. Saskia Rosendahl bringt eine ungeschliffene Direktheit mit, eine Energie, die den Film erdet. Ihre Anja ist rau, ehrlich, manchmal sprunghaft und stets lebendig. Das Zusammenspiel der beiden bildet das Herz von "Zikaden": Zwei Frauen, die einander fremd sind und sich doch in der anderen wiedererkennen.
Die Begegnung der beiden verändert ihr Leben, ohne es zu lösen. Anja übernimmt schließlich die Pflege von Isabells Vater, eine Entscheidung, die Nähe schafft, aber auch alte Wunden aufreißt. Weisse verzichtet bewusst auf melodramatische Zuspitzung. Statt großer Konflikte zeigt sie stille Beobachtungen: eine Hand auf der Schulter, ein Blick, ein unausgesprochener Satz. Die Kamera bleibt nah an den Figuren, wahrt dabei jedoch eine Distanz, fast so, als wolle sie ihnen nicht zu nahe treten. Auffällig ist, wie sehr der Film auf Geräusche und Atmosphäre setzt. Das Zirpen der Zikaden, das Surren von Insekten, das ferne Rauschen einer Landstraße, sie werden zum akustischen Echo des Lebens, das weitergeht, egal was geschieht. Aufdringliche Musik oder emotionale Führung gibt es nicht. Stattdessen schweigen die Szenen, lassen Pausen, geben Raum zum Beobachten.
Inhaltlich bleibt vieles offen. Ob zwischen Isabell und Anja mehr als Freundschaft entsteht, bleibt unklar und gerade das macht den Film überzeugend. "Zikaden" verweigert einfache Etiketten. Es geht nicht um Liebe oder Versöhnung, sondern ums Aushalten: die Unmöglichkeit, allem gerecht zu werden, und zwei Frauen, die in ihren unterschiedlichen Lebenswelten denselben Druck spüren, immer stark sein zu müssen.
Dass Ina Weisse ihre eigenen Eltern als Isabells Eltern besetzt hat, verleiht dem Film eine besondere Tiefe. Ihr Vater, sichtbar gezeichnet von Krankheit, strahlt eine Authentizität aus, die sich nicht inszenieren lässt. Diese Wahl macht "Zikaden" besonders intim. Es wirkt, als beobachte man etwas Persönliches, fast Therapeutisches. Was bleibt, ist das Gefühl, Zeuge von etwas Echtem geworden zu sein. "Zikaden" will nicht gefallen, sondern zeigen. Es ist ein Film, der Unordnung zulässt, der nicht alles erklärt. Vielleicht macht ihn das manchmal anstrengend, aber genau diese Ehrlichkeit ist es, die ihn besonders macht.
Am Ende bleibt vieles ungesagt. Isabell, gefangen zwischen Verantwortung und Selbstverlust. Anja, die weiterkämpft, ohne genau zu wissen, wofür. Und über allem das unaufhörliche Zirpen der Zikaden. Ein leises Erinnern daran, dass das Leben weitergeht, auch wenn man selbst noch stillsteht.
Kurzfazit: "Zikaden" ist ein stilles, vielschichtiges Drama über zwei Frauen, die im Chaos ihres Alltags nach Halt suchen. Ina Weisse inszeniert mit großer Sensibilität und filmischer Präzision, getragen von zwei herausragenden Hauptdarstellerinnen. Ein Film, der nicht erklärt, sondern spüren lässt, was bleibt, wenn Worte fehlen.
"Zikaden" erscheint ab dem 07. November 2025 auf DVD und Blu-ray

Kommentare
Kommentar veröffentlichen